„Ich mache das jetzt selbst mit Canva, das spart Geld.“ Dieser Satz ist der Albtraum jedes professionellen Mediengestalters – und gleichzeitig der Beginn vieler Design-Katastrophen. Seit Canva 2012 die Designwelt demokratisiert hat, gibt es eine wachsende Zahl von Menschen, die glauben, dass Zugang zu Templates gleichbedeutend ist mit Design-Kompetenz.
Die Wahrheit ist: Canva ist ein hervorragendes Werkzeug. Für das, wofür es gemacht wurde. Aber ein Schraubenzieher macht niemanden zum Schreiner, und Canva macht niemanden zum Mediengestalter. Der Unterschied zwischen beiden ist der Unterschied zwischen jemandem, der IKEA-Anleitungen folgen kann, und einem Möbeltischler mit jahrelanger Ausbildung.
Dieser Artikel erklärt, warum Canva-Kenntnisse keine professionelle Gestaltungskompetenz sind – und welche realen, teuren Konsequenzen entstehen, wenn Unternehmen auf Hobby-Designer statt auf Profis setzen.
Was Canva ist – und was es nicht ist
Canva ist ein Template-System
Canva wurde von Melanie Perkins gegründet, weil sie als Grafikdesign-Lehrerin sah, wie schwer sich ihre Schüler mit Photoshop taten. Die Idee war brillant: Professionelle Designer erstellen Templates, Laien füllen sie aus. Das ist nicht neu – das Prinzip kennen wir von PowerPoint-Vorlagen, Word-Templates, Website-Baukästen.
Was Canva gut kann:
- Schnelle Social-Media-Posts aus vorgefertigten Templates
- Einfache Flyer, Präsentationen, Instagram-Grafiken
- Routine-Content für kleine Unternehmen ohne Designabteilung
- Basis-Layouts für interne Dokumente
Was Canva nicht kann:
- Individuelles, markenspezifisches Corporate Design entwickeln
- Logos kreieren, die technisch korrekt und skalierbar sind
- Komplexe Print-Produktion mit Farbmanagement
- Professionelle Druckdaten mit Beschnitt, Anschnitt, Farbprofilen
- Editierbare, weiterverwendbare Dateien für Agenturen
Canva ist ein Werkzeug. Ein Mediengestalter ist ein ausgebildeter Fachmensch, der weiß, wann er welches Werkzeug einsetzt – und vor allem: warum.
Die drei Jahre Ausbildung – und was darin steckt
Ein Mediengestalter durchläuft eine dreijährige Ausbildung oder Grafikdesigner ein mehrjähriges Studium. Was lernt man dort, das ein Canva-Tutorial nicht vermittelt?
1. Typografie – mehr als Schriften auswählen
Ein Hobby-Designer wählt eine Schrift, weil sie „schön“ aussieht. Ein Mediengestalter versteht:
- Schriftanatomie: Versalhöhe, x-Höhe, Ober- und Unterlängen, Punzen, Serifen, Strichstärkenkontrast
- Schriftklassifikation: Renaissance-Antiqua, klassizistische Antiqua, Grotesk, geometrische Konstruktionsschrift
- Lesbarkeit: Warum Times New Roman für Fließtext funktioniert, aber nicht für Überschriften auf einem Plakat
- Schriftmischung: Warum man eine Grotesk mit einer Antiqua kombiniert, aber nie zwei Grotesken mit ähnlichem Charakter
- Mikrotypografie: Laufweite, Zeilenabstand, optischer Randausgleich, Witwen und Waisen
- Ligaturen und OpenType-Features: fi, fl, ffi – wann sie sinnvoll sind und warum
Ein Canva-Nutzer wählt „diese Schrift sieht cool aus“. Ein Mediengestalter weiß, warum eine Schrift für ein bestimmtes Projekt funktioniert – oder eben nicht.
2. Farbe – mehr als „das sieht gut aus“
Ein Hobby-Designer nutzt Farben nach Bauchgefühl. Ein Mediengestalter versteht:
- Farbtheorie: Komplementärfarben, Farbharmonien, Farbkontraste (Hell-Dunkel, Warm-Kalt, Qualitätskontrast)
- Farbpsychologie: Warum Blau Vertrauen schafft, Rot aktiviert, Grün beruhigt – und warum das kulturell variiert
- Farbräume: RGB, CMYK, HSB, LAB – und warum ein leuchtendes Neon-Orange am Monitor im Druck grau wird
- Farbmanagement: PSO Coated v3, sRGB, Adobe RGB, Softproof, Rendering-Intent
- Sonderfarben: Pantone vs. HKS, wann Sonderfarben sinnvoll sind, wie man sie anlegt
Ein Canva-Nutzer wählt Farben nach „Gefühl“. Ein Mediengestalter weiß, dass das leuchtende Pink am Monitor im Druck nicht funktioniert – und plant entsprechend.
3. Layout und Komposition – mehr als Elemente verschieben
Ein Hobby-Designer schiebt Elemente hin und her, bis es „irgendwie passt“. Ein Mediengestalter arbeitet mit:
- Gestaltgesetzen: Nähe, Ähnlichkeit, Prägnanz, Geschlossenheit, gemeinsames Schicksal
- Rastersystemen: Modulare Raster, Spaltenraster, hierarchische Raster
- Goldener Schnitt und Proportionen: Fibonacci, Goldener Schnitt, harmonische Teilung
- Weißraum: Bewusste Nutzung von Leerraum als Gestaltungselement
- Visueller Hierarchie: Wie führt man das Auge durch die Seite? Was wird zuerst, was zuletzt gesehen?
Ein Canva-Nutzer platziert Elemente intuitiv. Ein Mediengestalter konstruiert Layouts nach nachvollziehbaren Prinzipien, die funktionieren – auch wenn der Kunde sie nicht sieht.
4. Druckvorstufe – der unsichtbare Teil
Hier wird es kritisch. Ein Canva-Export ist ein fertiges Bild (JPG, PNG, PDF). Keine Ebenen, keine Bearbeitbarkeit, keine professionelle Weiterverarbeitung. Ein Mediengestalter erstellt:
- Druckdaten mit Beschnitt: 3mm Beschnittzugabe, Sicherheitsabstand, Anschnitt
- Farbprofile: PSO Coated für gestrichenes Papier, PSO Uncoated für Naturpapier
- Sonderfarben korrekt angelegt: Als Volltonfarbe, nicht als CMYK-Simulation
- Gesamtfarbauftrag im Blick: Maximal 300%, sonst Trocknungsprobleme
- Vektordaten: Logos als skalierbare Vektoren, nicht als Pixel-Grafiken
Ein Canva-Nutzer exportiert ein PDF und hofft, dass die Druckerei „das schon hinbekommt“. Ein Mediengestalter liefert druckfertige Daten, die technisch korrekt sind.
5. Software-Kompetenz – mehr als ein Tool
Canva ist eine Plattform. Mediengestalter beherrschen ein Ökosystem:
- Adobe InDesign: Mehrseitige Layouts, Masterpages, Absatz- und Zeichenformate
- Adobe Illustrator: Vektorgrafiken, Logo-Entwicklung, technische Illustrationen
- Adobe Photoshop: Bildbearbeitung, Compositing, Retusche, Farbkorrektur
- Figma: UI/UX-Design, Prototyping, kollaborative Webdesigns
- Affinity-Suite: Alternative zu Adobe für Spezialfälle
Und sie wissen, wann sie welches Tool einsetzen. Ein Logo wird in Illustrator gebaut, nicht in Canva. Ein 48-seitiger Katalog in InDesign, nicht in Canva. Eine Bildretusche in Photoshop, nicht in Canva.
Die Gefahren von Hobby-Designern – Real-World-Konsequenzen
Gefahr 1: Das Logo, das nicht funktioniert
Szenario: Ein Gründer erstellt sein Logo in Canva. Sieht am Monitor toll aus. Dann kommt die Realität:
- Visitenkarten: Die Druckerei fragt nach Vektordaten. Hat er nicht. Das Logo ist ein PNG mit 500px Breite. Auf der Visitenkarte wird es pixelig.
- Fahrzeugbeschriftung: Der Folierer braucht eine Datei für 3 Meter Breite. Das Canva-PNG ist auf 20cm ausgelegt. Resultat: Verpixelt, unbrauchbar.
- Stickerei: Die Stickerei braucht eine Vektordatei. Canva exportiert keine editierbaren Vektoren. Das Logo muss neu gezeichnet werden – Kosten: 300-500 Euro.
Die Wahrheit: Ein professionell erstelltes Logo kostet 500-2.000 Euro (je nach Komplexität). Es ist vektorbasiert, skalierbar, in allen nötigen Formaten vorhanden (EPS, SVG, PDF, PNG in verschiedenen Größen), mit und ohne Schutzraum, in Farbe und Schwarz-Weiß. Es funktioniert auf Visitenkarten, Gebäudefassaden, Stickereien, Siebdruck.
Ein Canva-Logo kostet 0 Euro. Und genau das ist es auch wert, sobald man es professionell einsetzen will.
Gefahr 2: Die Broschüre, die nicht gedruckt werden kann
Szenario: Ein Unternehmen erstellt eine 12-seitige Broschüre in Canva. Export als PDF, ab zur Druckerei. Die Rückmeldung:
- Kein Beschnitt (3mm fehlen an allen Seiten)
- Texte zu nah am Rand (werden abgeschnitten)
- RGB-Farben statt CMYK (Farben werden im Druck anders aussehen)
- Bilder in 72 dpi statt 300 dpi (werden pixelig)
- Falsche Seitenreihenfolge für Druck (Seite 1, 2, 3, 4 statt 4, 1, 2, 3 für Wickelfalz)
Die Konsequenz: Die Druckerei kann nicht drucken. Das Projekt muss komplett neu aufgesetzt werden – von einem Profi. Kosten: 800-1.500 Euro. Zeitverlust: 2-3 Wochen.
Die Wahrheit: Ein Mediengestalter hätte von Anfang an druckfähige Daten erstellt. In InDesign, mit korrektem Beschnitt, CMYK-Farbprofil, 300dpi Bildern, korrekter Seitenreihenfolge. Die Druckerei hätte ohne Rückfragen produziert.
Gefahr 3: Das Corporate Design, das nicht funktioniert
Szenario: Ein Unternehmen definiert seine Markenfarben in Canva. Hauptfarbe: Ein leuchtendes Türkis. Sieht am Bildschirm fantastisch aus. Dann:
- Print: Die Farbe ist außerhalb des CMYK-Gamuts. Im Druck wird sie matt und grau.
- Stoff: Die Textildruckerei braucht Pantone-Nummer. Hat das Unternehmen nicht.
- Website: Der Webdesigner braucht Hex-Code. Kein Problem. Aber der weicht vom Print ab (RGB vs. CMYK). Plötzlich sieht das Logo online anders aus als gedruckt.
Die Konsequenz: Inkonsistente Markenfarben über alle Medien hinweg. Das Logo sieht überall anders aus. Das ist das Gegenteil von Branding.
Die Wahrheit: Ein Mediengestalter hätte eine Farbe gewählt, die im CMYK-Gamut liegt, oder eine Sonderfarbe (Pantone/HKS) definiert. Er hätte Farbwerte für alle Anwendungen angelegt: CMYK, RGB, HEX, Pantone. Das Corporate Design wäre konsistent über alle Medien.
Gefahr 4: Keine Weiterbearbeitung möglich
Das Problem: Canva-Dateien sind geschlossene Systeme. Ein Export ist final. Keine Ebenen, keine Textbearbeitung, keine Anpassungen.
Szenario: Ein Unternehmen lässt einen Flyer in Canva erstellen. Sechs Monate später soll der Text geändert werden. Problem:
- Die Canva-Datei ist beim ursprünglichen Ersteller. Der ist nicht mehr erreichbar.
- Man hat nur das PDF. Text ändern? Unmöglich.
- Man muss den Flyer komplett neu aufbauen – in Canva oder von einem Profi.
Die Wahrheit: Eine InDesign-Datei kann jeder Mediengestalter öffnen, bearbeiten, anpassen. Texte ändern, Bilder austauschen, Layout anpassen – kein Problem. Canva ist eine Sackgasse. Einmal erstellt, nie wieder editierbar (außer man bleibt in der Canva-Welt gefangen).
Gefahr 5: Rechtliche Risiken
Viele Canva-Nutzer wissen nicht, dass:
- Canva-Pro-Elemente nur mit aktiver Lizenz kommerziell nutzbar sind: Abo gekündigt? Plötzlich sind alle genutzten Pro-Elemente illegal.
- Stockfotos Lizenzbeschränkungen haben: Nicht jedes Canva-Foto darf für Print, Merchandise oder Werbung genutzt werden.
- Schriften Lizenzen haben: Canva erlaubt die Nutzung in Canva-Designs. Aber das Logo mit der Schrift auf ein T-Shirt drucken? Kann Lizenzverletzung sein.
Ein Mediengestalter kennt Lizenzrecht, kauft Schriften korrekt, sichert Nutzungsrechte ab.
Wann Canva trotzdem okay ist
Canva ist nicht der Feind. Es hat seine Berechtigung:
Sinnvoll für:
- Interne Präsentationen
- Schnelle Social-Media-Posts für Kleinstunternehmen ohne Budget
- Prototyping und Mood Boards
- Persönliche Projekte (Geburtstagseinladungen, Hochzeitskarten für Freunde)
Nicht sinnvoll für:
- Logo-Entwicklung
- Corporate-Design-Entwicklung
- Professionelle Print-Produktion
- Alles, was langfristig, skalierbar, professionell sein muss
Canva ist ein Tool für schnelle, einfache Aufgaben. Mediengestaltung ist ein Beruf für komplexe, langfristige, strategische Projekte.
Was Unternehmen wissen sollten
Die versteckten Kosten von Billig-Design
Ein Canva-Design kostet 0 Euro (oder 12 Euro/Monat für Pro). Ein professioneller Mediengestalter kostet 50-100 Euro/Stunde. Auf den ersten Blick scheint Canva die günstigere Option.
Die Realität:
Szenario 1: Logo selbst machen
- Canva: 0 Euro, 3 Stunden Arbeit
- Resultat: Pixelig, nicht skalierbar, rechtlich unsicher, nicht druckbar
- Nacharbeit nötig: 500 Euro + 2 Wochen Verzögerung
Szenario 2: Logo vom Profi
- Kosten: 800 Euro
- Resultat: Vektorbasiert, skalierbar, rechtlich sicher, sofort einsetzbar
- Nacharbeit: 0 Euro
Langfristig ist Profi-Design günstiger.
Die Opportunitätskosten
Ein Unternehmer, der 10 Stunden in Canva investiert, hätte in dieser Zeit Kunden akquirieren, Produkte entwickeln, Strategie planen können. Sein Stundensatz: 100 Euro. Die 10 Stunden kosten also 1.000 Euro Opportunitätskosten.
Ein Mediengestalter hätte das Design in 3 Stunden fertig – für 300 Euro. Der Unternehmer spart 700 Euro und kann sich auf sein Kerngeschäft konzentrieren.
Für Mediengestalter: Wie man mit Canva-Konkurrenz umgeht
Als Profi wird man oft mit „Kann ich das nicht selbst in Canva machen?“ konfrontiert. Die Antwort:
„Natürlich können Sie. Aber lassen Sie mich Ihnen zeigen, was der Unterschied ist.“
Dann erklären:
- Vektorbasiertes Logo vs. Pixel-Grafik
- Professionelle Druckdaten vs. Export-PDF
- Farbmanagement vs. „sieht am Monitor gut aus“
- Langfristige Nutzbarkeit vs. Einweg-Design
Die meisten Kunden verstehen den Unterschied, sobald man ihn erklärt. Und wer ihn nicht versteht? Ist wahrscheinlich nicht der richtige Kunde für professionelle Arbeit.
Fazit: Werkzeug vs. Können
Ein Canva-Account macht niemanden zum Mediengestalter. Genau so wenig wie ein Kochmesser jemanden zum Koch macht, ein Hammer jemanden zum Zimmermann oder ein Wörterbuch jemanden zum Autor.
Canva ist ein Werkzeug. Ein gutes Werkzeug für bestimmte Aufgaben. Aber Werkzeuge ersetzen kein Können, keine Ausbildung, keine Erfahrung.
Drei Jahre Ausbildung, jahrelanges Studium von Typografie, Farbtheorie, Layout, Druckvorstufe – das steckt in professioneller Mediengestaltung. Das kann kein Template-System ersetzen.
Wer glaubt, Canva-Kenntnisse machten ihn zum Designer, ist wie jemand, der nach einem YouTube-Tutorial glaubt, er könne jetzt Häuser bauen. Theoretisch kann man Steine aufeinander stapeln. Aber will man in so einem Haus wohnen?
Die Antwort ist: Nein. Und genau deshalb braucht die Welt weiterhin professionelle Mediengestalter – die wissen, was sie tun, warum sie es tun, und wie sie es richtig machen.












